Teil 1: Dein Pferd – dein Reiseführer
Unsere Welt wird immer hektischer, immer schneller und wir werden aufgefordert rund um die Uhr erreichbar zu sein. Die Divise heißt: bloß nichts verpassen bzw. immer einsatz- und leistungsbereit sein.
„Das Leben bewegt sich sehr, sehr schnell. Wenn du nicht gelegentlich anhältst und dich umschaust, könntest du es verpassen“ – Matthew Broderick in „Ferris macht Blau“ (USA 1986)
Das hektische, stressgeladene Renntempo ist zwar manchmal von Nöten, jedoch sollte es kein Dauerzustand sein. Wenn es bei dir jedoch still, heimlich und leise zum Dauerzustand geworden ist und du auf der Suche bist, wie du dich etwas entschleunigst, stellst du dir ggf. die folgenden Fragen:
- Wie schaffe ich es am besten für einen Moment anzuhalten?
- Wie komme ich zur Ruhe?
- Wie stoppe ich das Gedankenkarusell?
- Wo finde ich den passenden Raum, wo ich mal wirklich ungestört sein kann?
- Was genau tue ich denn, wenn ich einen Raum gefunden habe?
- Wie bekomme ich die To-Do Liste aus dem Kopf mit all den Aufgaben, die noch zu erledigen sind?
- Wo soll ich die Zeit für mich selber hernehmen?
Meistens geben wir wegen der vielen Fragen einfach auf, weil es entweder zu kompliziert erscheint oder wir ja eh schon keine Zeit haben. Der Weg zur Achtsamkeit ist ein spannender Weg, der viel Freude bereitet, nicht kompliziert ist und auch nicht 8 Stunden Zeit pro Tag erfordert. Und das Beste: du brauchst ihn auch nicht allein zu gehen.
Aller Anfang ist schwer – deutsches Sprichwort
Oft finden wir im Treiben und Tun des Tages nie einen Moment, um mal anzufangen unsere eingefahrenen Muster zu durchbrechen. Aber ist es wirklich so schwer? Nein, denn wenn du ein Pferd besitzt, gibt es da genau diese eine Zeit am Tag, in der du bereits die ersten Schritte der Achtsamkeit gehst. Genau diese Zeit wird jene sein, die dir nicht nur den Anfang präsentiert, sondern auch gleich den perfekten Lehrer im Gepäck hat.
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Unsere Pferde sind wahre Meister der Achtsamkeit. Sie leben exakt im Augenblick, ohne sofort zu bewerten. Sie führen alles ganz bewusst aus: den Weg zum Wasser und das was ihnen bei jedem Schritt dorthin begegnet, die Fellpflege mit dem Weidekumpel wird in vollen Zügen genossen, Haar für Haar, usw. All ihre Aufmerksamkeit liegt bewusst im Jetzt.
Wenn wir Zeit mit unseren Pferden verbringen, sind wir mit unserer Konzentration bei ihnen. Beim Reiten liegt der Fokus auf der Hilfengebung. Bei der Bodenarbeit konzentrieren wir uns auf unsere Körpersprache. Und beim Striegeln? Was genau tust du eigentlich beim Striegeln?
Die 4 Säulen der Achtsamkeit – Säule 1: Dein Körper
Unser Körper ist unser bester Freund und doch widmen wir ihm nicht immer genug Aufmerksamkeit. Bei der Achtsamkeit gegenüber deinem Körper geht es darum, dass du dir bewusst machst, was du mit deinen Sinnen wahrnimmst. Also sehen, riechen, schmecken, hören und tasten. Welche Bedürfnisse und Signale dein Körper dir sendet, wenn du ihm all deine Aufmerksamkeit widmest. All das, was du wahrnimmst, wird nicht beurteilt, sondern lediglich achtsam angenommen. Du wirst zum Beobachter deines Körpers. So können wir lernen unseren Körper und daraus resultierende Bedürfnisse besser zu verstehen. Klingt doch eigentlich gar nicht so kompliziert, oder?
Auf die Plätze, fertig… und ran ans Pferd für das Achtsamkeitstraining
Die meist empfohlene Methode, um einen Einstieg zu finden, ist die bewusste Atmung. Ich selbst habe etwas anders angefangen, und zwar mit dem Beobachten. Stück für Stück habe ich dann mit Hilfe von meinen Pferden das bewusste Wahrnehmen erweitert.
Beobachten – dein Pferd als Zentrum
Um dir ein gutes Bild davon machen zu können und dein Gehirn besser vorbereiten zu können auf die Beobachterposition, ist das Beobachten von deinem Pferd ein hervorragender Start. Hierzu sind ein paar Minuten pro Tag bereits ausreichend.
Schau mal genau hin was deine Fellnase tut und wie sich verhält in verschiedenen Situationen
- Fellpflege mit dem Kumpel
- Weidezeit – die ersten Bienen/Hummeln sind unterwegs und Pferd und „Flug-Tier“ begegnen sich
- Winter – der erste Schnee ist da
- Futterzeit – wenn du dein Pferd in Boxenhaltung hast
- Besuch von der Stallkatze oder Hund bei deinem Pferd
- Wie verhält es sich, wenn du es putzt? Besonders geeignet für Beobachtungen ist hier der Fellwechsel
- Der Schmied ist zu Besuch
- Ihr bummelt durch das Gelände
- Etc.
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Atemübung – Du bist das Zentrum
Wenn alles so leicht wäre wie atmen, wäre das nicht toll? Und weil atmen so leicht ist, ist es ein superguter Einstieg die Achtsamkeit gegenüber deinem Körper zu üben. Hierfür sind bereits 3-4 Minuten pro Tag ausreichend.
Such dir einen bequemen Stuhl und eine ruhige Ecke. Wenn du diese Übung am Stall machen magst, brauchst du einen Platz, wo nicht gleich die gesamte Stallgemeinschaft vorbei marschiert kommt. Ich fand es sehr entspannend meine Pferde sehen zu können während dieser Übung. Ich hatte daher meinen Stuhl direkt an den Paddock gestellt. Wenn du einen geeigneten Platz gefunden hast
- Setz dich bequem hin
- Schau auf dein Pferd oder schließ die Augen
- Atme tief ein und fühl was beim Einatmen passiert
- Was machen deine Schultern?
- Bis wohin atmest du (tief in den Bauch oder Brustkorb)?
- Was machen deine Muskeln und wie fühlen sie sich an?
- Etc
- Atme tief wieder aus und fühl was beim Ausatmen passiert
- Was machen deine Schultern?
- Was machen deine Muskeln und wie fühlen sie sich an?
- Was macht dein Mund / deine Nase?
Du wirst ggf. feststellen, dass deine Gedanken recht fix „abhauen“. Um besser bei der Atmungsübung zu bleiben, hilft dir vielleicht eins der folgenden Themen:
- beim Einatmen bis 4 zählen und beim Ausatmen bis 6 zählen
- beim Einatmen an ein tolles Gefühl denken, dass du mit deinem Pferd erlebt hast, und beim Ausatmen stellst du dir vor wie sich dieses Gefühl in deinem ganzen Körper ausbreitet
- z.B. ein Galopp über eine große Wiese die ihr beide voller Freude genossen habt. Dem Gefühl Freude gebe ich dann gerne eine Farbe, weil es mir so leichter fällt das Gefühl beim Ausatmen zu verteilen. Sei offen und spontan und lass dich überraschen, was dein Unterbewusstsein für dich bereithält
- beim Einatmen an einen Zustand denken, den du gerne hättest. Zum Beispiel Ruhe, Balance, Energie, Kraft, etc. Beim Ausatmen stellst du dir dann auch hier wieder vor, wie sich der Zustand in dir ausbreitet
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Es wird von Tag zu Tag einfacher ohne Zählen oder andere Konzentrationsübungen bei deiner Atmung zu bleiben. Dann kannst du auch mehr und mehr wahr nehmen was so beim Einatmen und Ausatmen in deinem Körper passiert. Hab Geduld mit dir. Wir kommen aus einer stressigen Welt und diese mit einem Ruck anzuhalten ist ggf. nicht möglich.
Putzübung – dein Körper und deine 5 Sinne im Fokus
Das Putzen deines Pferdes ist eine total tolle Übung, um deine Achtsamkeit auf deine 5 Sinne und deinen ganzen Körper zu legen. Und während du für dich auf Entdeckungsreise gehst, genießt dein Pferd die Fellpflege und lebt jede einzelne Bewegung mit dir gemeinsam – klassische Win-Win Situation.
- Das Putzen und die Bewegungen und Signale deines Körpers
- was spürst du in den Armen? Warum z.B. wechselst du die Hand (Striegel erst mit rechter Hand dann mit linker)
- Wo kommt der Druck auf den Striegel her?
- Welche Muskeln bewegen sich, welche sind ganz locker?
- Was sagt dein Rücken beim Hufe auskratzen?
- Wieviel Spannung hast du im Rücken?
- Das Putzen und das Tasten
- Wenn du die Bürsten mal weglegst, wie fühlt sich das Fell von deinem Pferd an?
- Wie viele Muskeln und/oder Sehnen kannst du fühlen?
- Wie bewegen sich diese Muskeln, wenn dein Pferd den Hals schüttelt, eine Fliege verscheucht oder beim Schonen den Huf wechselt?
- Das Putzen und das Riechen
- Nach was riecht dein Pferd?
- Riecht es am Hals anders als an der Nase?
- Wie riechen Hufe?
- Das Putzen und das Sehen
- Wie viele Farbnuancen kannst du im Fell sehen?
- Wie dünn oder dick ist der Schweif?
- Hat dein Pferd das Fell aufgestellt oder liegt es flach an?
- Wie viele Tasthaare hat dein Pferd?
- Wie lang sind die Wimpern deines Pferds?
- Das Putzen und das Schmecken
- Nach so viel entdecken habt ihr beide euch eine Möhre verdient
- Wie schmeckt eigentlich Möhre? Und wie fühlt es sich an, wenn deine Zähne auf etwas so festes beißen?
- Das Putzen und das Hören
- Wie hört es sich an, wenn dein Pferd die Möhre kaut oder davon abbeißt?
- Hörst du den Atem deines Pferdes?
- Was für ein Geräusch macht die Wurzelbürste?
- Kaut dein Pferd vor Entspannung ab?
- Wenn du dein Ohr an die Flanke deines Pferdes legst, was hörst du?
Du wirst merken, dass du mit der Zeit kreativ wirst und deinen ureigenen Ablauf gemeinsam mit deinem Pferd findest. Es gibt so viele tolle Dinge, die ihr gemeinsam entdecken könnt, die dich keine zusätzliche Zeit kosten, aber dir helfen Schritt für Schritt mehr und mehr Achtsamkeit in dein Leben zu bringen.
Ich habe zum Beispiel den Weg zur Weide als nächsten Schritt genommen. Dann folgten das Reiten und die Bodenarbeit. Wie bei der Putzübung nimm dir einen Sinn nach dem anderen vor und geh auf Entdeckungsreise in deinen Körper. Es ist nicht nur entspannend, sondern macht Spaß und so manches mal kannst du bestimmt auch über dich und dein Pferd schmunzeln.
Spannend geht es im Anschluss weiter mit der 2. Säule der Achtsamkeit – deinen Gedanken.
Ich wünsche dir viel Spaß beim Ausprobieren. Wenn du Fragen hast oder dich gern austauschen möchtest freu ich mich von dir zu hören.
Always faithfull, Sybille